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Johann Sebastian Bachs ,,Große Katholische Messe"

Im Juli 1733 überreicht Johann Sebastian Bach, Direktor Musices und Cantor an der Thomas Schule" zu Leipzig, am kurfürstlichen Hof in Dresden eine "Missa", d.h. eine nur Kyrie und Gloria umfassende Vertonung des lateinischen ordinarium missae, und fügte dem handschriftlichen Stimmensatz ein an Kurfürst Friedrich August II. von Sachsen gerichtetes Widmungsschreiben bei, in dem es u.a. heißt: ,,lch habe einige Jahre und bis daher bey denen beyden Haupt-Kirchen in Leipzig das Directorium in der Music gehabt, darbey aber ein und andere Bekränckung unverschuldeter weise auch jezuweilen eine Verminderung derer mit dieser Function verknüpfften Accidentien empfinden müßen, welches aber gänzlich nachbleiben möchte, daferne Ew. Königliche Hoheit mir die Gnade erweisen und ein Praedicat von Dero Hoff-Capelle conferiren, und deswegen zu Ertheilung eines Decrets, gehörigen Orths hohen Befehl ergehen laßen würden; Solche gnädigste Gewehrung meines demüthigsten Bittens wird mich zu unendlicher Verehrung verbinden und ich offerire gerade mich in schuldigsten Gehorsam, jedesmal auf Ew. Königlichen Hoheit gnädigstes Verlangen, in Componirung der Kirchen Musique sowohl als zum Orchestre meinen unermüdeten Fleiß zu erweisen, und meine ganzen Kräffte zu Dero Dienste zu widmen..." Dieses Schreiben zeigt, wie übrigens verschiedene andere Dokumente dieser Zeit in vergleichbarer Weise, daß Bach mit seiner Stellung als Thomas-Kantor in Leipzig nicht recht zufrieden war und sich von der Ernennung zum königlich-sächsischen Hofkapellmeister eine Verbesserung seiner Situation erhoffte. Der Zeitpunkt der Dedikation war gut gewählt, denn Friedrich August II. hatte gerade erst den Thron bestiegen und war im Begriff, alle Angelegenheiten am Hofe nach seinem Geschmack zu regeln. Bachs Hoffnungen wurden jedoch nicht erfüllt, und wahrscheinlich hat der Kurfürst die ihm gewidmete Missa nicht einmal wahrgenommen, denn kaum auf dem Thron, war er schon in einen Krieg verwickelt, der seine ganze Aufmerksamkeit absorbierte. Erst auf ein neuerliches Gesuch hin wurde Bach 1736 zumindest der Titel, wenn auch nicht das Amt eines sächsischen Hofkapellmeisters zugesprochen. So plausibel der in Bachs Schreiben sicherlich mitgedachte Wunsch nach einer beruflichen Veränderung erscheint, so überrascht doch auf den ersten Blick daß ein Komponist, dessen Name zum lnbegriff protestantischer Kirchenmusik geworden ist, eine lateinische Messe an einem katholischen Hof überreicht, noch dazu mit dem Hinweis, "...in Componirung der Kirchen Musique" - und damit kann nur Musik für den katholischen Hofgottesdienst gemeint sein - "unermüdIichen Fleiß ... erweisen" zu wollen.

Daß Bach seine Verwurzelung im Protestantismus als amtierender sächsischer Hofkapellmeister verleugnet hätte, ist kaum vorstellbar; so ist die Bemerkung wohl eher als ein dezenter Hinweis auf die ihm zu Gebote stehenden kompositorischen Möglichkeiten zu verstehen und nicht als Ankündigung einer Konvertierung; und schließlich hatte er sein Schreiben ja auch keiner Sammlung von Orchesterwerken beige-legt, sondern einer ,,Missa", einem Stück ,,Kirchen Musique" also. Auch steht die Komposition eines solchen Werkes durchaus nicht im Widerspruch zur protestantischen Herkunft Bachs, da lateinische Kurzmessen an Feiertagen einen festen Platz im lutheranischen Gottesdienst besaßen. Davon zeugen im übrigen die zwischen 1735 und 1742 entstandenen vier ,,lutherischen Messen" (so die Bezeichnung in der Neuen Bachausgabe).

Nach allem, was aus den überlieferten Quellen geschlossen werden kann, hat Bach die Dresdner ,,Missa" erst in seinen letzten Lebensjahren zu einer ,,Missa tota" vervollständigt. Über die Gründe für diese Komplettierung lassen sich bislang nur Vermutungen anstellen. Ein aktueller äußerer Anlaß scheint nicht vorgelegen zu haben, wenngleich - darauf hat Wolfgang Osthotf erst kürzlich aufmerksam gemacht - die Einweihung von Gaetano Chiavaris Dresdner Hofkirche um die Jahrhundertmitte bevorstand und Bach nach dem Tod von Jan Dismas Zelenka der erste Komponist gewesen wäre, dem die Gestaltung der festlichen Einweihungsmusik von Amts wegen zugefallen wäre.

Die Vervollständigung der Dresdner ,,Missa" ist jedoch wohl eher im Zusammenhang mit anderen Projekten des späten Bach zu sehen, etwa der ,,Kunst der Fuge" und dem ,,Musikalischen Opfer", beides Werke, die sich aufgrund ihrer kompositorischen Komplexität und ihres esoterischen Kunstanspruchs den aufführungspraktischen Institutionen der Zeit verweigern. In ihnen ist so etwas wie ein künstlerisches Testament Bachs zu erkennen, in dem er noch einmal alle kompositorischen Künste, die für die nun zu Ende gehende musikgeschichtliche Epoche verbindlich waren, zusammenfaßt. Vergleichbares läßt sich auch von der h-moll-Messe sagen, wenngleich in einem etwas pragmatischeren Sinn. Im Alter ordnete und revidierte Bach seine Werke, seinen Nachlaß, den seine Söhne erben sollten. Möglicherweise wollte er ihnen eine ,,große catholische Messe" - so nannte Carl Philipp Emmanuel die h-molI- Messe- hinterlassen, nicht zuletzt deshalb, um ihnen das Notenmaterial einer repräsentativen, also fürstlichen, Festmusik zu vermachen, auf das sie in einer Position als Hofkapellmeister hätten zurückgreifen können. Carl Philipp Emmanuel hat nachweislich zumindest das Credo der Messe, allerdings in bearbeiteter Form und im bürgerlichen Hamburg, aufgeführt.

Nur ein Teil der Sätze, mit denen Bach die Dresdner ,,Missa" vervollständigte, ist vollständig neu komponiert. Das ,,Sanctus" etwa entstand bereits 1724 und wurde für die Integration in die hmoll-Messe nur geringfügig überarbeitet. Von sieben der insgesamt 27 Sätze ist seit langem bekannt, daß sie auf zuvor komponierte Kantatensätze zurückgehen. So stellt etwa das ,,Gratias agimus tibi" eine Überarbeitung oder - so der Fachterminus - ,,Parodie" des Chors "Wir danken dir, Gott" aus der gleichnamigen Ratswechselkantate BWV 29 dar. Neueste Forschungen haben zumindest wahrscheinlich gemacht, daß insgesamt über die Hälfte des Werks aus solchen Parodien besteht, worauf nicht nur spezifische Korrekturspuren in Bachs handschriftlicher Partitur deuten, sondern auch der Vergleich einiger Sätze mit nachweislich von Bach vertonten Texten, zu denen die Originalmusik verschollen ist

Die Parodiepraxis zählte im Barockzeitalter zu Alltäglichkeiten des kompositorischen Handwerks, das noch nicht von dem ästhetischen Postulat der Originalität bestimmt war, sondern von dem Bemühen geleitet wurde, die einem Text zugrundeliegenden Affekte auf angemessene Weise in Töne zu fassen. So konnte Bach den größten Teil der Arien und Chöre des ,,Weihnachts-Oratoriums" nach Vorlagen aus weltlichen Kantaten ,,parodieren", wobei er, und das ist entscheidend, die Musik dem neuen Text durch mehr oder weniger gewichtige Modifikationen wie Instrumentationsänderungen, Transposition u.a. genau anpaßte. Gleiches gilt für die h-moIl- Messe, für die Bach zum Teil auf Kirchenkantaten zurückgriff, im Fall der Kantate ,,Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen" BWV 12, deren Eingangssatz als Vorlage für das ,,Crucifixus" diente, sogar auf ein frühes Werk aus der Weimarer Zeit, zum Teil auf weltliche Kantaten für das Haus Sachsen. Daß er dabei zwischen ,,weltlich" und ,,geistlich" nicht deutlich unterschied, hat seinen Grund in der Musiksprache des Barockzeitalters, die diese abstrakte Unterscheidung nicht prinzipiell vornimmt. Der Zusammenhang entscheidet, ob etwa mit einer festlichen Trompetenmusik wie der des ,,GIoria in excelsis Deo" einem irdischen Herrscher oder dem Herrn im Himmel gehuldigt wird. Nichtsdestotrotz hielt auch die barocke Musiksprache Ausdrucksformen bereit, die eine historisch gewachsene Beziehung zur spezifisch geistlichen Musik besaßen. Dazu zählen etwa streng gearbeitete Fugen, vor allem aber Stücke im sogenannten ,,stile antico", einer kontrapunktischen Schreibart, die schon äußerlich durch die Bevorzugung langer Notenwerte in großräumigen 3/2- oder 4/2-Takten auf die Wurzeln dieses ,,alten Stils" in der Musik vor 1600 schließen lassen. Obwohl Sätze wie das erste ,,Credo" oder ,,Confiteor", beides übrigens Originalkompositionen, kompositorisch klar dem 18. Jahrhundert verbunden sind, ist ihnen doch eine für die ältere Kirchenmusik typische gewichtige Würde (,,gravitas") eigen, wozu die in beiden Sätzen verwendeten gregorianischen Choralmelodien nicht unwesentlich beitragen.

Es gehört indes zu den großen Wundern der h-moll-Messe, wie es Bach gelingt, in der kantatenhaften Abfolge des Werkes Sätze von ganz unterschiedlicher stilistischer Grundsubstanz nebeneinander zu stellen, ohne jemals die Geschlossenheit des Ganzen zu gefährden. So kann auf das ausladende erste Kyrie mit seiner von ,,Erbarmen"- Seufzern durchdrungenen Fuge das gelöste Duett ,,Christe eleison" (das wahrscheinlich eine Parodie darstellt) folgen. Dem ,,Et in terra pax" schließt sich das virtuos-galante ,,Laudamus te" an, in dem Solosopran und Solovioline miteinander wetteifern. Mit dieser Arie, einem wahren Schaustück instrumentaler wie vokaler Brillanz, das sicherlich im Hinblick auf die herausragenden Musiker am Dresdner Hof konzipiert wurde, wollte Bach möglicherweise demonstrieren, wie groß seine stilistische Bandbreite ist und, daß er sich neueren Tendenzen durchaus anzupassen vermochte. Mit wahrhaft monumentafer Gestik durchmißt Bach in der h-moll-Messe den weiten Kosmos barocken Komponierens, um zugleich den liturgischen Rahmen, der in jedem seiner anderen geistlichen Werke mitgedacht ist, zu zersprengen. Daher ist es verständlich, daß sich keine Aufführung des Werks im 18. Jahrhundert nachweisen läßt. Erst im 19. Jahrhundert wurde die h-moll-Messe öffentlich aufgeführt, in einer Zeit also, in der Musik wie die Bachs als ,,autonome" Kunst verstanden wurde. Aus diesem neuen Bewußtsein heraus wurde Bachs ,,große catholische Messe" zur ,,Hohen Messe", und sicherlich gibt es auch heute noch viele Menschen, die Hans Georg Nägeli recht geben, der die h-moll-Messe 1818, als das Werk von einer staunenden Nachwelt wiederentdeckt wurde, als das ,,größte musikalische Kunstwerk aller Zeiten und Völker" bezeichnete.

Thomas Seedorf

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